Querschnittlähmung

Aus phys-med

Grundlagen

  • ca. 1000 Patienten/Jahr in D
  • Ursachen:
WS-Frakturen 70% davon 70% Vekehrsunfälle
Erkrankungen 20%
  • Angiome
  • Tumoren und Metastasen
  • hämatogene Abszesse
  • A. spinalis ant.-Syndrom
Suizidversuche 5%  
Iatrogene Schädigung    
  • Verteilung:
    • 30% Tetraplegie
    • 70 % Paraplegie
    • Frauen/Männer 30/70
    • 80% < 40 Jahre
  • Verlauf (bei hoher Läsion):
Hypertension Dauer: wenige Minuten
Spinaler Schock Hypotone Krisen, schlaffe Lähmung, Ausfall der MER, Kontrollverlust von Blase und Mastdarm, Dauer: Wochen bis Monate
Spastik, Hyperreflexie Spastisch überhöhter Muskeltonus, übersteigerte MER, autonome Hyperreflexie (z. B. Blutdruckspitzen bei Manipulation an der Blase)

Erstversorgung

Höhenlokalisation
C4 Diaphragma
C5 M.deltoideus, Ellenbogenbeuger
C6 Handstrecker
C7 Ellenbogenstrecker
C8 Fingerbeuger
T1 Fingerabduktoren
L2 Hüftbeuger
L3/4 Kniestrecker
L4/5 Fußheber
L5 Großzehenheber
S1 Fußsenker
S2 Grosszehensenker
  • V.a. WS-Verletzung:
    • Unfallmechanismus (Auffahrunfall, Fahrzeugüberschlag, Badeunfall, Sturz aus großer Höhe, Kopfverletzungen mit Stauchungen der Wirbelsäule)
    • Fehlen von Spontanbewegungen
    • Atmung (z.B. paradoxe Atmung)
  • Transport:
    • Rückenlage
    • fixierte Kopf-/WS-Fehlstellung belassen
    • Kopf unter ständigem Zug in leichter Reklination
    • Schanzkrawatte
    • Schaufeltrage
    • Vakuummatratz
    • ggf. Bergesack, Spineboard eingesetzt
    • Cave bei Intubation
  • neurologischer Status:
  • Schmerz-/Schocktherapie:
    • Volumen
    • positiv inotrope Substanzen: Dopamin ( 2-10 µg/kg/h )
    • Methylprednisolon (NASCIS-III-Schema):
      • Bolus 30 mg/kg KG so früh wie möglich (< 8 h)
      • Erhaltungsdosis 5,4 mg/kg KG/h für weitere 23 h
      • nur jüngere. ansonsten gesunde Patienten
      • rel. KI: akutes SHT, perforierende Verletzungen, floride Infekte, Komorbiditäten (DM, HI)

Spinaler Schock

  • Vasomotorenzentrums
  • vegetative Regulationsmechanismen
  • Sympathikolyse
    • hypotone Kreislaufregulationsstörungen → verstärkte Ischämie des Rückenmarks
    • Herzrhythmusstörungen, Bradykardie bis Asystolie
  • Dysregulationen (autonome Hyperreflexie)
  • Atonie der ableitenden Harnwege
  • partielle tubuläre Insuffizienz der Nieren (primäre Flüssigkeitsretention , sek. Polyurie)
  • Magen-Darm-Atonie mit Ileussymptomatik
  • innersekretorische Störungen (Hyperglykämie, Entgleisung des Elektolytstoffwechsels)
  • Störungen der Thermoregulation

OP-Indikation

  1. Neurologisch:
    • neue Lähmung nach freiem Intervall
    • deutliche und rasche Zunahme einer Lähmung oder Hypästhesie von mehr als 3 Etagen
    • Übergang von inkompletter zu kompletter Lähmung
    • offene WS-/Rückenmarkverletzung
  2. Statisch:
    • Gefahr bleibender Instabilität der WS
    • grobe Dislokation
    • schwerste Zerreißungen und WS-Trümmerfrakturen
    • Sicherung der Pflegefähigkeit bei Polytrauma mit SHT (mangelnde Kooperationsfähigkeit und unruhiger Patient)

Atmung

Verletzung unterhalb C4

  • Zwerchfellmotorik erhalten → suffiziente Spontanatmung möglich
  • AMV wenig beeinträchtig, aber Ausfall Bauch-/Intercostalmuskulatur → Abhustefähigkeit ↓ → Risiko für Sekretretention, Minderbelüftung, Atelektasen
  • Therapie:
    • frühzeitige Atemtherapie stündlich erforderlich
    • bewußtes Abhusten durch manuelle, rhythmische Kompression und Entlastung des Thorax
    • Wechsellagerungen, Oberkörper Hoch-/Tieflagerung
    • Anfeuchten der Atemluft
    • Vibrationsmassagen und Abklatschen
    • Totraumvergrößerung
    • Sekretolytika

Verletzung oberhalb C4

  • Ausfall der Zwerchfellatmung → Intubation, maschinelle Beatmung notwendig
  • Erlernen einer Spontanatmung durch Gebrauch der Atemhilfmuskulatur:
    • M. sternocleidomastoideus
    • Mm. scaleni (soweit intakt)
    • M. trapezius
    • Platysma
    • Mm. infrahyoidei und suprahyoidei
    • Mm. pectorales (C5-Th1)
    • Mm. serrati ant. (C5-C7)
    • M. latissimus dorsi (C6-C8)
  • Zwerchfellschrittmacher
    • direkte Diaphragmastimulation (DDS):
      • Elektrodenimplantation kaudales Diaphragma
      • 4 Elektroden, an Insertionsstelle N. phrenicus
    • indirekt: Phrenicusstimulation (phrenic nerve stimulator = PNS)
      • Voraussetzung: genügend intakte motorische Vorderhornzellen des N. phrenicus
      • 4 Elektroden pro Nerv, rotierendes/variables Erregungsmuster
        → Stimulation unterschiedliche Anteile von Nerv/Zwerchfells, Vermeidung unphysiologische Stimulation mit Ermüdung
      • Programm im Sitzen und Liegen unterschiedlich

Blase

  • siehe auch Harninkontinenz
  • Akutphase: schlaffe Blasenlähmung
    • Einmal-Katheter alle 4h
    • evtl. BDK oder suprapubischer Katheter
    • evtl. Triggern (Reflexentleerung durch rhythmisches Beklopfen oberhalb der Symphyse)
  • Urodynamik: Detrusoraktivität?
  • Infektionsprophylaxe durch ausreichende Harnmenge (> 1,5 l/24h) und Ansäuern des Urins
  • Cave:
    • schlaffe Lähmung → Kreatinin ↓
    • Spastik → Kreatinin ↑

Darm

  • spinalen Schock: Retention von Stuhlgang, da keine reflektorische Aktivität
  • danach entweder reflektorischer oder schlaff gelähmter Defäkationsmechanismus
  1. Reflektorischer Defäkationsmechanismus:
    • Kontraktion des Rektums auf Füllung → Relaxation des Anus
    • Darmtraining unter Ausnutzung bestehender Reflexe:
      • postprandial (Magenfüllung) → Kolonaktivität (gastro-kolischer Reflex)
      • rektale/anale Reize (Zäpfchen, Mikroklistiere)
  2. schlaff gelähmter Defäkationsmechanismus:
    • fehlender Tonus im analen Sphinkter → unkontrollierter Stuhlabgang
    • gastro-kolischer Reflex vorhanden → postprandiale Entleerung
    • fehlende rektale/anale Aktivität → Entleerung durch Erhöhung des intraabdominellen Druckes (Bauchpresse) oder manuelles Ausräumen
    • Obstipation häufig erwünscht
  • jeweils ballaststoffreiche Kost + ausreichend Flüssigkeit
  • Kolonmassage unterstützend

Komplikationen

Thrombose

  • Thromboserisiko ↑↑ in den ersten 4-8 Wochen
  • Thrombogenetische Faktoren:
    • Verlust des Vasomotorentonus
    • Ausfall der Muskelpumpe
    • vegetative Steuermechanismen gestört
    • Langzeit-Immobilisierung
    • eingeschränkte Atemfunktion (bei cervikalen/thorakalen Verletzungen) → verringerte Sogwirkung auf den venösen Rückfluss
    • erhöhter intraabdomineller Druck durch Blasen-/Mastdarmlähmung → Meteorismus, Zwerchfellhochstand
    • Hyperkoagulabilität durch Gewebsthrombokinase ↑↑ bei Begleitverletzungen (Frakturen, Weichteilverletzungen)
    • chronisch-hypoxische Gefäßwandschädigung durch Lagerung
  • Thromboseprophylaxe:
    • Heparin-Perfusor 20.000 I.E./d
    • Enoxaparin 1 x tgl. 40 mg (nicht gewichtsadaptiert) 3 Monate nach Unfall, 20 mg über weitere 3 Monate
    • Fraxiparin 1 x tgl., gewichtsadaptiert, bis 6 Wochen nach Vollmobilisation
    • falls Langzeitprophylaxe erforderlich: orale Antikoagulation, Ziel-INR: 2-3

Paraosteoarthropathie

  • heterotope Ossifikation → periartikuläre Knochenneubildung (Gelenke selbst nicht betroffen)
  • Ursachen unklar, daher keine Prophylaxe möglich
  • v.a. Hüfte/Oberschenkel, seltener Ellenbogen/Schulter
  • Symptome: diffuse Gelenkschwellung, lokale Reizung, fortschreitende Bewegungseinschränkung
  • Diagnose: AP ↑, Dreiphasenszintigramm
  • Therapie:
    • Bestrahlung (2 Gy an 5 aufeinanderfolgenden Tagen) + Indomethacin (100 mg 3x tägl.) über 3 Monate
    • nach Abschluss der Knochenbildung ggf. operative Entfernung zur Verbesserung der Mobilität

Dysreflexie

  • Läsion oberhalb Th6 → Unterbrechung der efferenten sympatischen Bahnen
  • bei Reizung (Blase, Haut, Darm, psychische Faktoren) → spinaler sympatischer Reflex
  • fehlende zentrale Hemmung → massive Reizantwort ("sympatischer Sturm"):
    • Vasokonstriktion unterhalb Läsion
      • RR ↑↑ (bis 300/200 mmHg)
      • UEX kalt/blass
    • Reizung von Barorezeptoren (Aortenbogen, ACI) → Gegenregulation durch Vasodilatation oberhalb Läsion
      • starke Rötung des Gesichtes
      • starkes Schwitzen oberhalb der Läsion
      • verstopfte Nase
      • pochende Kopfschmerzen
      • Vagusreizung → Bradycardie
  • Ursachen für autonome Dysreflexie:
    • Blase: Überdehnung, Entzündung, verstopfter Katheter
    • Darm: Überfüllung → Ausräumen
    • Haut: eingewachsene Zehennägel, Druckstellen, zu enge Schuhe/Kleidung
    • Uterus: Ende der Schwangerschaft, Entbindung
    • Intensive sportliche Betätigung
  • Therapie:
    • Reiz beheben
    • Patienten aufrecht setzen
    • medikamentös
  • Prophylaxe:
    • Blasen-/Darmregulation
    • Dekubitusprophylaxe, Haut-/Nagelpflege
    • passende Kleidung

Rehabilitation

Lagerung

  • Spezialbett (Dreh-/Sandwich-/Wasserbett, Packbetten aus einzelnen Schaumstoffquadern)
Arme/Hände
(Tetraplegie)
Schultern
  • waagerecht (nicht hochziehen)
  • Arme in ca. 30° Abduktion
  • Außen-/Innenrotation im Wechsel (Bauchlage → Innenrotation, Rückenlage → Außenrotation)
  • Schulterextension in Nullstellung (Oberarme im Niveau des Thorax)
Ellenbogen
  • Wechsel Supination/maximale Extension ↔ Pronation/15° Flexion
Hände "Funktionshand":
  • Handgelenk 30° Extension
  • MCP/PIP 90° Beugung
  • DIP gestreckt/leichte Beugung
  • Daumen in "halber Opposition" (evtl. Rolle dazwischen)
Beine/Füße
(Tetra-/Paraplegie)
Hüftgelenke
  • Flex/Ext Nullstellung
  • Abduktion 10-15°
  • Außenrotation vermeiden
Kniegelenke
  • leichte Beugung von 5-10°, keine Überstreckung
Sprunggelenke
  • Null-Stellung (kein Spitzfuß, kein Hackenfuß)

Funktionelles Training

  • abhängig von der Läsionshöhe → Aufstellungen/Pläne vorhanden
  1. Kopfkontrolle: ggf. initial Halskrawatte
    • im Rollstuhl
    • im Kurzsitz
    • im gestützten Langsitz
    • im Unterarmstütz
  2. Balanceübungen
  3. Sitzbalance (C4)
    • gestützter Langsitz: Beine vollständig aufliegend, Arme passiv neben/hinter Pat. plaziert, Rumpf leicht vorgeneigt
    • ungestützter Langsitz: wie oben ohne Armabstützung; nur möglich, wenn ischiocruale Muskulatur nicht zu kurz
    • gestützter Kurzsitz: OS vollständig aufliegend, Füße auf dem Boden, Arme seitlich/hinten gestützt
    • ungestützter Kurzsitz: wie oben ohne Armabstützung
  4. Unterarmstütz
  5. Drehen (C5/6)
  6. Lagewechsel der Beine im Langsitz
  7. zum Sitz kommen (C5/6)
  8. Transfers: ggf. Rutschbrett
    • Bett-Rollstuhl
    • Rollstuhl-Bett
    • Rollstuhl- Toilette: Galgen und Toilettenbügel erforderlich
    • Rollstuhl-Auto (C 5/6)
    • Rollstuhl-Boden

Steh-/Gehtraining

  • Vorbereitung durch Stehbrett → Orthostase (Gähnen, kalter Schweiß, Blässe, Schwindel)
  • → wirksame Prophylaxe gegen :
    • Dekubitus
    • ungenügende Körperkondition
    • Kontrakturen
    • Spastizität
    • Thrombose
    • Osteoporose
    • Nieren-/Blasenproblematik
    • Darmproblematik
  • Hilfsmittel:
    • lange Oberschenkelschienen, Oberschenkel-Schienen-Schellen-Apparate
    • Rumpfkorsett
    • Gehwagen/Rollator
  • Reihenfolge:
    1. Barren
    2. hoher Gehwagen
    3. Rollator
    4. Unterarmgehstützen.
  • Techniken:
    • Swing-to: Hände greifen vor, Rumpf schwingt nach bis zu Händen
    • Swing-through: Hände greifen vor, Rumpf schwingt durch, Beine weiter vorn als Hände
    • Vierpunktgang
    • gleiche Techniken auch mit UAG
  • Treppen gehen in Swing-through-Technik.
  • selbständiges Stehen/Gehen bei Läsion unterhalb C8/Th1
  • bei höher gelegenen Läsionen → Hilfsmittel für zu Hause, Stehbrett/Stehbett

ADL-Training

  • im Bett: Drehen, Lagern, Langsitz
  • Transfers (Kurzsitz) und Mobilität
  • Essen und Trinken
  • Waschen
  • An-/Ausziehen
  • Kommunizieren: Lesen/Schreiben, Telefonieren, Computer bedienen

Ergotherapie

  • Handfunktion bei Tetraplegischen Patienten: ab C5/6 Funktionshand möglich
  • Greiffunktion durch Handgelenksextension → Fingerbeugung, Daumen dem Zeigefinger anlegt
  • Grifftechniken:
    • Zylindergriff (wie ein Kölschglas fassen)
    • Lateralgriff (Gegenstand zwischen Daumen und Zeigefinger einklemmen)
    • Ligamentgriff (Gegenstand zwischen zweiten und dritten Finger geklemmt)
    • Interlasinggriff (Gegenstand wird zwischen den Fingern durchgeflochten)
  • wichtig: Vermeiden einer Krallenhand

Klassifikation nach Frankel

Grad
A Komplette Verletzung: keine motorische oder sensible Funktion unterhalb der Verletzungshöhe
B Erhaltene Sensibilität: Restsensibilität bis in sakrale Segmente
C Keine Gebrauchsmotorik: Restmotorik unterhalb der Verletzung, die aber nicht den Gebrauch der Extremitäten erlaubt
D Gebrauchsmotorik: Restmotorik erlaubt den Gebrauch der Extremitäten mit oder ohne Unterstützung
E Erholung: normale Motorik und Sensibilität. Pathologische Reflexe können persistieren

AISA-Score

Weblinks