Fibromyalgiesyndrom: Unterschied zwischen den Versionen

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== Ätiologie, Pathogenese, Pathophysiologie ==
== Ätiologie, Pathogenese, Pathophysiologie ==


* mehrfach nachgewiesen:
* '''mehrfach nachgewiesen''':
** familiäre Häufung, Genpolymorphismen bisher nicht nachgewiesen
** familiäre Häufung, Genpolymorphismen bisher nicht nachgewiesen
** Störung der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenachse:
** Störung der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenachse:
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** Störung des Wachstumshormon-Systems/Insulin-like growth factor I (IGF-I)
** Störung des Wachstumshormon-Systems/Insulin-like growth factor I (IGF-I)
** Autonomes Nervensystem: Subgruppen mit vermehrter und verminderter (para-)sympathischer Aktivität
** Autonomes Nervensystem: Subgruppen mit vermehrter und verminderter (para-)sympathischer Aktivität
** Störungen der zentralen Schmerzverarbeitung: zentralen Augmentation → verminderte zentrale Hemmung oder negative kognitiv-affektive Bewertung peripherer Reize
** Störungen der zentralen Schmerzverarbeitung: zentrale Augmentation → verminderte zentrale Hemmung oder negative kognitiv-affektive Bewertung
** erhöhte Prävalenz bei entzündlich rheumatischen Erkrankungen  
** erhöhte Prävalenz bei entzündlich rheumatischen Erkrankungen  
** Physische/psychische Stressoren am Arbeitsplatz
** Physische/psychische Stressoren am Arbeitsplatz
** Affektive Störungen
** Affektive Störungen, Somatisierung
** Somatisierung
** Operante Konditionierung und Sensitivierung
* beschrieben:  
** verschiedene Formen der Krankheitsbewältigung:
*** dysfunktional: hohes Schmerzempfinden, hohe schmerzbedingte Beeinträchtigung, geringe Aktivität, übermäßig zuwendendes Partnerverhalten
*** interpersonell-beeinträchtigt: geringere Schmerzintensität, bestrafendes Partnerverhalten, depressive Verstimmungen, übermäßige
*** aktiv verarbeitend: mittlere Schmerzintensität/Beeinträchtigung/Aktivität, seltener psychische Auffälligkeiten
* '''beschrieben''':  
** erhöhte proinflammatorische und verminderte anti-inflammatorische systemische Zytokinprofile
** erhöhte proinflammatorische und verminderte anti-inflammatorische systemische Zytokinprofile
** Veränderungen des dopaminergen Systems
** Veränderungen des dopaminergen Systems
** Veränderungen des Serotoninsystems  
** Veränderungen des Serotoninsystems  
* uneinheitliche Befunde:
* '''uneinheitliche Befunde''':
** Veränderungen von Substanz P  
** Veränderungen von Substanz P  
** metabolische Alterationen im Muskel
** metabolische Alterationen im Muskel
** Veränderungen der Muskelanspannung
** Veränderungen der Muskelanspannung
** Kindheitsbelastungen, belastende Lebensereignisse im Erwachsenenalter
** Kindheitsbelastungen, belastende Lebensereignisse im Erwachsenenalter
* nach aktuellem Stand kein Zusammenhang/nicht nachgewiesen:
* '''nach aktuellem Stand kein Zusammenhang/nicht nachgewiesen''':
** Störungen des Schilddrüsenhormonssystems
** Schilddrüsenhormone, weibliche Sexualhormone, RAAS
** Störungen der weiblichen Sexualhormone
** Störungen des Renin-Angiotensin-Aldosteron
** Spezifische strukturelle Muskelveränderungen  
** Spezifische strukturelle Muskelveränderungen  
** physische Traumata (Unfälle mit Nackenschmerzen + psychosozialen Risikofaktoren)
** physische Traumata (Unfälle mit Nackenschmerzen + psychosozialen Risikofaktoren)
** Borrelineinfektion
** Borrelineinfektion, virale Infektionen (EBV, Parvovirus B19)
** Virale Infektionen (EBV, Parvovirus B19)
** Kosmetische Brustimplantate
** Kosmetische Brustimplantate
** Zervikale Spinalkanalstenose
** Zervikale Spinalkanalstenose
 
→ FMS = Endstrecke verschiedener ätiopathogenetischer Faktoren und pathophysiologischer Mechanismen
 
# Lernmechanismen: Operante Konditionierung und Sensitivierung haben eine Bedeutung bei der Chronifizierung des FMS.
"Evidenz"grad 2b, starker Konsens
 
Kommentar: Das Schmerzverhalten schließt neben nonverbalem Verhalten, wie Stöhnen, Gesicht verziehen und Berühren der schmerzenden Stelle auch eine unangemessene Aktivität, exzessive Medikamenteneinnahme und Vermeidungsverhalten in verschiedenen Lebensbereichen ein (Vlaeyen and Linton 2000). Schmerzverhalten wird auch charakterisiert als eine besondere Form nicht bewusstem Kommunikationsverhaltens, das anderen Personen den Schmerz signalisiert (Labus et al. 2003) und spezifische Partnerreaktionen, im Sinne eines übermäßigen zuwendendem Partnerverhalten, hervorruft (Thieme et al. 2005). Diese übermäßige Zuwendung belohnt das gezeigte Schmerzverhalten, führt zur Wiederholung des Verhaltens und in seiner Konsequenz zur Sensitivierung im Sinne einer verstärkten Schmerzwahrnehmung. Eine prospektive Studie bei Patienten mit FMS konnte im Vergleich zu alters- und geschlechtsadaptierten gesunden Kontrollen nachweisen, dass das übermäßig zuwendende Partnerverhalten mit hohem Schmerzverhalten und übermäßiger Schmerzwahrnehmung korreliert (Thieme et al. 2005). Die Ausprägung des Schmerzverhaltens bei Patienten mit FMS ist heterogen: In einer prospektiven Studie konnte gezeigt werden, dass Patienten mit dysfunktionaler Krankheitsverarbeitung das höchste Schmerzverhalten, Patienten mit interpersoneller Beeinträchtigung und aktiv verarbeitende Patienten zeigen selten oder kein Schmerzverhalten zeigen (Thieme et al. 2005).
 
# Krankheitsverarbeitung: Es lassen sich verschiedene Formen der Krankheitsbewältigung und mit ihnen assoziierten Beeinträchtigungen unterscheiden.
"Evidenz"grad 2c, starker Konsens
 
Kommentar: An Hand standardisierter psychometrischer Tests lassen sich Patienten mit FMS mit dysfunktionaler, interpersonell-beeinträchtigter und aktiver Krankheitsverarbeitung unterscheiden (Dalhstrom et al. 1997; Turk et al. 1998; Thieme et al. 2004; Thieme et al. 2005). Danach zeigen dysfunktional verarbeitende Patienten ein hohes Schmerzempfinden, eine hohe schmerzbedingte Beeinträchtigung und geringe Aktivität bei übermäßig zuwendendem Partnerverhalten. Dagegen weisen die interpersonell-beeinträchtigten Patienten eine geringere Schmerzintensität auf bei bestrafendem Partnerverhalten, das vermehrt mit depressiven Verstimmungen und einer übermäßigen Aktivität einhergeht. Die aktiven Verarbeiter berichten eine mittlere Schmerzintensität, Beeinträchtigung, Aktivität und selten psychische Auffälligkeiten. An Hand psychologischer Tests und Schmerzschwellenmessung unterscheidet Giesecke (2003) Patienten mit mäßigem psychischen Distress und Katastrophisieren und geringer "Tenderness", Patienten mit hohem psychischen Distress und ausgeprägtem Katastrophisieren und hoher "Tenderness" und Patienten mit geringem psychischem Distress, adaptiver Schmerzbewältigung und hoher "Tenderness" (Giesecke et al. 2003).
 
# Biopsychosoziales Modell: Ein biopsychosoziales Modell bezüglich Prädisposition, Auslösung und Chronifizierung des FMS wird postuliert. Physikalische und/oder biologische und/oder psychosoziale Stressoren lösen bei einer entsprechenden genetischen und lerngeschichtlichen Prädispositionen vegetative, endokrine und zentralnervöse Reaktionen aus, aus denen die Symptome des FMS, wie Schmerz, Fatigue, Schlafstörungen, vegetative und psychische Symptome resultieren. Es besteht eine Heterogenität in der genetischen und lerngeschichtlichen Prädisposition sowie in den vegetativen, endokrinen und zentralnervösen Reaktionen. Das FMS ist eine Endstrecke verschiedener ätiopathogenetischer Faktoren und pathophysiologischer Mechanismen.
"Evidenz"grad 5, starker Konsens


== Weblinks ==
== Weblinks ==

Version vom 3. Dezember 2010, 14:08 Uhr

Diese Seite ist im Wesentlichen eine Zusammenfassung der AWMF-Leitlinie "Definition, Pathophysiologie, Diagnostik und Therapie des Fibromyalgiesyndroms" (siehe Weblinks)

Grundlagen

Chronic widespread pain (CWP)

  • meist assoziiert mit anderen körperbezogenen Beschwerden wie Druckschmerzempfindlichkeit, Steifigkeits-/Schwellungsgefühl (Hände, Füße, Gesicht), Müdigkeit/Schlafstörungen, GI-Beschwerden, Parästhesien, Ängstlichkeit/Depressivität, Kopfschmerzen/Migräne
  • Dimensionen: Häufigkeit, Dauer, Intensität, Zahl der Schmerzorte, schmerzassoziierte Behinderungen, körperliche und psychische Begleitsymptome
  • Kriterien (ACR):
    • Schmerzen > 3 Monate
    • Achsenskelett (HWS, BWS/Thorax, LWS)
    • rechte und linke Körperhälfte
    • oberhalb und unterhalb der Taille
  • Prävalenz: 10%, Frauen:Männer 2:1

funktionelles somatisches Syndrom (FSM)

  • "medically unexplained somatic symptoms" → ohne erklärende strukturelle Organschädigung oder biochemische Abweichungen
  • Beispiele:
    • Fibromyalgiesyndrom (FMS)
    • unspezifischer Rückenschmerz
    • Reizmagen-/Reizdarmsyndrom
    • Spannungskopfschmerz
    • Reizblase
    • chronischer Unterbauchschmerz

Fibromyalgiesyndrom

  • Definition mehrdimensional:
    • körperliche Symptome
    • seelische Symptome
    • Beeinträchtigungen
    • subjektive Krankheitsüberzeugungen
    • Krankheitsverhalten
    • Krankheitsbewältigung
  • Definition nach ACR:
    • Anamnese: CWP
    • Klinik: > 11/18 Tenderpoints
  • "Kontinuum des Symptomkomplexes": Subgruppen → CWP, FMS
  • Ausprägung der Symptome im zeitlichen Verlauf sehr stabil
  • Prävalenz: 1-2%, Frauen:Männer 4-6:1
  • Tender Points:
    • umschriebene Druckschmerzempfindlichkeit an Muskel-Sehnenansätzen definiert
    • Hinweis auf herabgesetzte Schmerzschwelle
    • Zahl der Tender Points korreliert mit Ausmaß des körperlichen und psychosozialen Distress
  • Mitteilung der Diagnose "Fibromyalgiesyndrom" → positiver/negative Effekt unklar

Diagnose

  • nach symptombasierten Kriterien (CWP + Steifigkeits-/Schwellungsgefühl Hände/Füße/Gesicht + Müdigkeit/Schlafstörungen)
  • fakultativ TP (für die klinische Diagnose nicht notwendig)
  • positive Kontrollpunkte schließen die Diagnose FMS nicht aus
  • Empfehlungen:
  1. Schmerzskizze
  2. Medikamentenanamnese (UAW?)
  3. körperliche Untersuchung/Ganzkörperstatus
  4. Labor
    • BSG, CRP, BB (DD Polymyalgia rheumatica, rheumatoide Arthritis)
    • Kreatinkinase (DD Muskelerkrankungen)
    • Kalzium (DD Hyperkalziämie)
    • TSH (DD Hypothyreose)
    • ANA/ANCA nur klinischen Hinweisen (Gelenkschwellungen etc.)
  5. systematische Erfassung assoziierter Symptome
    • Körperliche Müdigkeit, vermehrte Erschöpfbarkeit
    • Kognitive Störungen (Konzentrations- und Merkfähigkeitsstörungen)
    • Morgensteifigkeit > 15 Minuten, Schwellungsgefühl Hände/Füße/Gesicht
    • Ein-/Durchschlafstörungen, nicht erholsamer Schlaf
    • Ängstlichkeit
    • Depressivität "Evidenz"grad 5, Empfehlungsgrad offen, starker Konsens
  6. systematische Erfassung weiterer Symptome assoziierter funktionell somatischer Syndrome
    • GI-Beschwerden (z. B. Globusgefühl, dyspeptische Beschwerden und Stuhlunregelmäßigkeiten) → Reizmagen und Reizdarm
    • Miktionsbeschwerden (z. B. Algurie, Dysurie, Pollakisurie) → Reizblase
    • Kopfschmerz vom Spannungstyp
    • Gesichtsschmerzen, nächtliches Zähneknirschen &rarr, CMD
    • Chronische Unterbauchschmerzen → Chronic pelvic pain (Frau), Prostatodynie (Mann)
    • Herzbezogene Beschwerden (z. B. Palpitationen, thorakales Druckgefühl) → Funktionelle Herzkreislaufbeschwerden
    • Atembezogene Beschwerden (z. B. Gefühl der Atemhemmung) → Funktionelle Atembeschwerden
    • Ohrgeräusche, Geruchs-/Lärmüberempfindlichkeit, empfindliche Augen → Reizüberempfindlichkeit
    • Vermehrtes Frieren oder Schwitzen, Kältegefühl der Extremitäten
  7. Beeinträchtigungen in Alltagsfunktionen (Arbeit, Haushalt, Freizeit, Sexualität) → ICF-orientiert
  8. Ursachenüberzeugung/subjektive Krankheitstheorie, Ressourcen/Bewältigungsstrategien, krankheitsfördernde Mechanismen
  9. aktuelle psychosoziale Stressoren (Beruf, Partnerschaft, Familie) und biographische Belastungsfaktoren (emotionale Vernachlässigung, körperliche und sexuelle Gewalterfahrungen, Aufwachsen mit mindestens einem chronisch kranken Elternteil)
  10. aktuelle/frühere psychiatrische/psychotherapeutische Behandlungen, Einnahme von Psychopharmaka
  • keine weiterführende apparative Diagnostik bei typischem Beschwerdekomplex und fehlenden klinischen Hinweisen
  • Fachärztliche/fachpsychologische Untersuchung bei
    • Angabe von aktuellen schwerwiegenden psychosozialen Stressoren
    • Angabe von aktuellen/früheren psychiatrischen Behandlungen und/oder Einnahme von Psychopharmaka
    • Angabe von schwerwiegenden biographischen Belastungsfaktoren
    • maladaptiver Krankheitsverarbeitung
    • subjektive psychologische Krankheitsattributionen

Ätiologie, Pathogenese, Pathophysiologie

  • mehrfach nachgewiesen:
    • familiäre Häufung, Genpolymorphismen bisher nicht nachgewiesen
    • Störung der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenachse:
      • Abflachung der zirkadianen Rhythmik für die Cortisol-Ausschüttung
      • Hypocortisolismus in Stimulationstests
    • Störung des Wachstumshormon-Systems/Insulin-like growth factor I (IGF-I)
    • Autonomes Nervensystem: Subgruppen mit vermehrter und verminderter (para-)sympathischer Aktivität
    • Störungen der zentralen Schmerzverarbeitung: zentrale Augmentation → verminderte zentrale Hemmung oder negative kognitiv-affektive Bewertung
    • erhöhte Prävalenz bei entzündlich rheumatischen Erkrankungen
    • Physische/psychische Stressoren am Arbeitsplatz
    • Affektive Störungen, Somatisierung
    • Operante Konditionierung und Sensitivierung
    • verschiedene Formen der Krankheitsbewältigung:
      • dysfunktional: hohes Schmerzempfinden, hohe schmerzbedingte Beeinträchtigung, geringe Aktivität, übermäßig zuwendendes Partnerverhalten
      • interpersonell-beeinträchtigt: geringere Schmerzintensität, bestrafendes Partnerverhalten, depressive Verstimmungen, übermäßige
      • aktiv verarbeitend: mittlere Schmerzintensität/Beeinträchtigung/Aktivität, seltener psychische Auffälligkeiten
  • beschrieben:
    • erhöhte proinflammatorische und verminderte anti-inflammatorische systemische Zytokinprofile
    • Veränderungen des dopaminergen Systems
    • Veränderungen des Serotoninsystems
  • uneinheitliche Befunde:
    • Veränderungen von Substanz P
    • metabolische Alterationen im Muskel
    • Veränderungen der Muskelanspannung
    • Kindheitsbelastungen, belastende Lebensereignisse im Erwachsenenalter
  • nach aktuellem Stand kein Zusammenhang/nicht nachgewiesen:
    • Schilddrüsenhormone, weibliche Sexualhormone, RAAS
    • Spezifische strukturelle Muskelveränderungen
    • physische Traumata (Unfälle mit Nackenschmerzen + psychosozialen Risikofaktoren)
    • Borrelineinfektion, virale Infektionen (EBV, Parvovirus B19)
    • Kosmetische Brustimplantate
    • Zervikale Spinalkanalstenose

→ FMS = Endstrecke verschiedener ätiopathogenetischer Faktoren und pathophysiologischer Mechanismen

Weblinks