Neurogene Blasenstörung
Aus phys-med
Neurophysiologie
- 4 verbundene Funktionsschleifen
1. Großhirn - Hirnstamm
- Frontallappen → Hirnstamm/Formatio reticularis
- Input aus Kleinhirn, Basalganglien
- Störung: Parkinson, MS, Tumor, SHT, vaskuläre Erkrankungen, lokale Erkrankung Harntrakt
- intakt, wenn Detrusorkontraktionen willentlich unterbrochen werden können
- Untersuchung: Zystometrie
2. Hirnstamm - spinales Miktionszentrum
- Formatio reticularis → sakrales Miktionszentrum (S2-4)
- sensorische Afferenzen von Blasenmuskulatur (gekreuzt über Tractus spinothalamicus)
- notwendig für ausreichend lange Detrusorkontraktion/völlige Blasenentleerung
- Störung: Rückenmarksverletzungen, Entzündung, MS
- bei Unterbrechung keine willentliche Miktionseinleitung möglich
- intakt, wenn Detrusorkontraktion nach Aufforderung zur Entleerung
- Untersuchung: Zystometrie
3. Blase - sakrales Miktionszentrum - Sphincter externus urethrae
- sensorische Afferenzen Detrusor → sakrales Miktionszentrum → Interneurone → motorische Pudenduskerne → Sphincter externus urethrae
- Koordination Detrusor/urethrale Muskulatur/Sphincterrelaxation
- Einfluss durch Schleife 4 möglich
- Störung: MS, Querschnitt, Tumor, Neuropathie/PNP, lokale Erkrankungen
- bei Störung: fehlende Sphincterrelaxation bei Detrusorkontraktion → funktionelle Obstruktion, Verlängerung der Miktion
- Untersuchung: aufwendige Neurophysiologie
4. Zerebrum - spinales Miktionszentrum
- Großhirnrinde → N. pudendus/sakrales Miktionszentrum
- willentliche Steuerung Sphincter externus urethrae
- Störung bei Tumor, SHT, MS, vaskulär, lokal
- bei Läsion keine willentliche Kontrolle Sphincter externus urethrae
- Untersuchung: EMG Sphincter externus urethrae
autonomes Nervensystem
- sympathischer Anteil: N. hypogastricus
- Th10 - L2
- α-adrenerge Fasern: v.a. Harnröhre → Kontraktion Blasenhals/Harnröhre, Relaxation Detrusor
- β-adrenerge Fasern: v.a. Detrusor → Relaxation Harnröhre/Detrusor
- parasympathischer Anteil: N. pelvicus
- S2 - S4 (sakrales Miktionszentrum)
- Kontraktion Detrusor, Relaxation Urethra
Neurogene Blasenfunktionsstörungen
passives Hochdrucksystem (areflexive Blase)
- Läsion spinales Miktionszentrum/Reflexbogen → Hypo-/Areflexie Detrusor = atone/hypotone Blase
- große Restharnmengen, Überdehnung → Wandveränderung, Reflux, Stauungsniere
- Sensibilitätsstörung → Überlaufinkontinenz
aktives Hochdrucksystem (Reflexblase)
- Läsion/Störung oberhalb des sakralen Miktionszentrums ("supranukleär")
- ungesteuerte/ungehemmte Detrusorkontraktion → Erhöhung der Blasenwandspannung bereits bei Füllung (Low-Compliance-Blase) → früher Aufstau
- keine willkürliche Beeinflussung mehr möglich
- Detrusordruck abh. von Höhe der Läsion und Vegetativum (Parasympathikotonus)
- Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie: Detrusor-Kontraktion + gleichzeitiger spastischer Sphinkter-Verschluss → Entleerung nur noch möglich, weil Sphincter externus (quergestreift) nicht so lange spastisch kontrahieren kann wie Detrusor (glatt) → kurzfristige Erschlaffung → stakkatoartige, insuffiziente Miktion
- oft kein Restharn → Reflexinkontinenz
- Detrusorhypertrophie, Trabekel-/Pseudodivertikelbildung, Fibrosierung der Blasenwand
- Reflux, Nierensuffizienz, Infekte
Diagnostik
- Anamnese:
- Sexual-/Miktions-/Defäkationsfunktion (Miktionsprotokoll)
- Beeinflussung/Unterdrückung der Miktion
- Harnabgang, Harndrang, Zeit/Häufigkeit
- Restharnmessung (mehrfach)
- Harnflussmessung (Uroflowmetrie)
- urogenitaler Reflexstatus: Sensibilität/Tonus/Kontraktion Analsphincter, Analsphincter-/Cremaster-/Bulbocavernosus-Relfex
- Urodynamik mit simultaner Röntgenkontrolle → Klassifizierung, quantitativ/qualitative Darstellung
- videourodynamische Untersuchung
- videografische Aufzeichnung des Miktionsvorganges → Sekundärveränderungen (Divertikel, Reflux, Wandveränderungen)
- Provokationstests (Carbacholtest, Eiswassertest)
Therapie
- übergeordnetes Ziel: Lebensqualität → Kompromiss aus medizinischer Notwendigkeit und individuell Akzeptablem
- funktionelles Ziel: Speicherfunktion → ausreichende Blasenkapazität + ausreichende Kontinenz → Schutz der Nieren
- infravesikale Obstruktion↓ und/oder Detrusorüberfunktion↓
- halbjährliche Sono-Kontrollen (Stauung?), jährliche Urodynamik
konservativ
- Toilettentraining
- Ausdrücken der Blase → obsolet, da Druck nicht ausreichend für vollständige Entleerung
- transurethraler Dauerkatheter: Silikon, wöchentlicher Wechsel, kurzer Zeitraum → Teufelskreis Inkontinenz/Infekt → Mortalität!
- suprapubische Harnableitung: Reizung der Blasenschleimhaut → Blaseninfektion mittelfristig nicht vermeidbar, häufig Reflux; 3-wöchentlicher Wechsel
- intermittierender Katheterismus:
- Therapie der Wahl bei hypo-/areflexiver Blase (oder Reflexblase unter anticholinerger Behandlung) mit großer Restharnmenge
- jahrelang möglich, Infektionen vermeidbar bei steriler Technik
- 4-5x tgl., leicht zu erlernen (auch für Kinder!)
- Blasentraining ("Triggern"):
- bei Reflexblase
- suprapubisch Klopfen oder transrektal Tasten → ungesteuerte Detrusorkontraktion, günstigenfalls komplette Blasenentleerung
- urodynamische Kontrolle → Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie möglich (simultane Kontraktion) → hohe inteavesikale Drücke → Folgeschäden
- Kombination mit Kondomurinal möglich
- Elektrostimulation: Dämpfung/Stimulation; v.a. bei Detrusorhypokontraktilität
- Medikation:
- Detrusordämpfung:
- Indikation: Urgeinkontinenz, Reflexinkontinenz (→ Umwandlung in areflexive Blase)
- anticholinerg, kalziumantagonistisch, spasmolytisch
- Restharnerhöhung → Einmalkatheterismus
- Oxibutynin, Trospiumchlorid, Tolterodine
- Medikamente gegen Spastik (quergestreifte Muskulatur):
- Wirkung auf externen Sphinkter → meist nicht ausreichend
- Baclofen
- α1-Blocker:
- bei inkompletter Läsion mit nicht öffnendem Blasenauslass → Blasenauslasswiderstand↓
- Tamsulosin, Doxazosin, Alfuzosin
- Detrusorstimulation:
- UAW → selten erfolgreich
- evtl. in Kombination mit α1-Blockern
- Detrusordämpfung:
- Inkontinenzversorgung:
- Kondomurinal (Männer): besser als alle Katheter, tgl. Wechsel
- Windelversorgung (Frauen): Trockengel, ansäuernder Zusatz
- Infektprophylaxe: Ansäuerung mit L-Methionin
operativ
- Sphinkterotomie (externer Sphinkter): bei therapieresistenter Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie
- Elektrostimulation: v.a. bei Frauen mit hohem Querschnitt → Durchtrennung der motorischen Hinterhornwurzel (Reflexblase → areflexive Blase) + Stimulator
- (Auto-)Augmentation: bei Reflexblase → künstliches Divertikel ("Windkessel") → Verbesserung von Compliance + Kapazität
- Blasenersatz mit Kontinenzverlust → Ileum-Conduit
- Blasenersatz mit Kontinenz: Pouch/Neoblase → Katheterismus
- sakrale Deafferentation und Implantation eines Vorderwurzelstimulators